Festvortrag zum 10-jährigen Jubiläum und zur Einweihung des Waldorfkindergartengebäudes in Künzelsau-Morsbach 2007
von der Kindergärtnerin Evi Wolpert
Das Kind findet Beachtung – aber es geht ihm nicht gut
Kinder werden heute ernst genommen und finden große Beachtung. Ganze Industriezweige produzieren für sie. Fernseh- und Computerprogramme sind speziell für die Kinder gemacht. Es gibt weit gestreute fördernde Angebote. Es gibt Kinderuniversitäten. Wir haben neue Forschungsergebnisse, beratende Literatur, Erziehungsberatungsstellen und zahlreiche Therapien. Dennoch geht es den Kindern heute nicht gut. Ich weiß nicht, ob Sie die Meldungen in der Presse verfolgen. Die sprachliche Entwicklung unserer Kinder ist zunehmend gestört. Die Straftaten der Jugendlichen nehmen zu. Die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder ist besorgniserregend. Ich will nur wenige Beispiele nennen: Bewegungsmangel, Allergien, Fettsucht, Magersucht, Rheuma, Unruhe, Angst und Depression.
Was ist es, was die Entwicklung unserer Kinder so stört?
Die Kindheit braucht Raum.
Raum seelischer Geborgenheit-Beziehung
Das Kind bedarf eines seelischen geborgenen Raumes. Es braucht zumindest eine Bezugsperson, die sich liebevoll kümmert, die ein wirkliches Interesse an dem kleinen Wesen hat und es in seinem so sein ganz annimmt und ernst nimmt. Auch dann, wenn es heranwächst und in dem einen oder anderen nicht ganz den Idealvorstellungen entspricht. Michaela Glöckler weist darauf hin, wie wichtig es ist, weder die Höchstleistung, noch das Versagen in den Vordergrund zu stellen und darauf zu achten, nicht mehr vom Kinde zu fordern, als es leisten kann. Das Kind braucht einen Menschen, der ganz hinter ihm steht, der ihm Halt gibt und es dennoch in seinem eigenen Willen achtet. Es braucht keine Laissez-faire-Erziehung, sondern Grenzen, damit es sich in deren Schutze frei entfalten kann.
Achtung der Persönlichkeit
Das Kind muss als Persönlichkeit geachtet werden. Es selbst bringt seine Anlagen mit. Kahlil Gibran sagt „Erziehung streut keinen Samen in die Kinder hinein, sondern lässt den Samen aufgehen, der in ihnen liegt.“ Rudolf Steiner weist darauf hin, dass die Kinder nicht nur ihre Begabungen mitbringen, sondern auch ihre Lebensaufgabe, und dass die Kinder selbst es sind, die sich alles beibringen. Er sagt „Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir (…) sind nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes.“ Dies gibt uns eine große Verantwortung als Vorbild und erklärt, dass Kinder Raum brauchen zur Entwicklung ihres Eigenseins.
Raum der Behaglichkeit
Zu diesem braucht das Kind, ich möchte es einmal nennen einen Raum der wohligen Behaglichkeit. Natürlich gehören dazu auch die zuvor genannte liebevolle Fürsorge, wahre Beziehung, Achtung der Persönlichkeit. Aber es gehört noch mehr dazu, so etwas, wie Lebensfreude, Muße in Wohlgefühl. Wie gut geht es unseren Kindern, wenn wir ausgeschlafen und fröhlich sind und Zeit haben; wie gibt ihnen dies Nahrung.
Zeit, Kraft und Freude brauchen wir, um diese schaffende, webende, wohlige Atmosphäre zu erzeugen. Kann ein Kind solche erleben, so ist es ihm eine Quelle des Wohlgefühls weit über die Kindheit hinaus. Rhythmus und Gewohnheiten können helfen bewusst solche Zeiten des Atmens einzuplanen. Heute sind oft Vater und Mutter berufstätig. Die Zeit muss straff organisiert sein, um Beruf, Haushalt und Kinder unter einen Hut zu bekommen. Nachmittagstermine der Kinder erhöhen diesen Zeitdruck und behindern den Raum fürs wohlige Dasein.
Wir sind es gewohnt, nach Zeitersparnis und Effizienz zu schauen und wollen unseren Kindern eine weit gestreute Förderung zukommen lassen, eine gute Startchance für das Leben ermöglichen. Zu dem Zeitdruck, den unsere Termine und die Termine unserer Kinder mit sich bringen, kommt der Zeitdruck, der die Gesellschaft unseren Kindern aufgibt mit Früheinschulung und Turboabitur. All dies behindert die Entwicklung und geht eindeutig auf Kosten der Kräfte und Gesundheit unserer Kinder.
Da ist noch etwas, was unseren Kindern die Zeit stiehlt: Das Fernsehen. Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate gehen der Kindheit durch das Fernsehen verloren. Hier werden die Kinder ausgeschaltet, es findet kein eigenes Leben mehr statt, die Initiative wird lahm gelegt, Entwicklung behindert. Hinzu kommen noch die Zeiten, die sich die Kinder mit Computer, Game-Boy oder Handy beschäftigen. Und so kann man das überall erleben.
Eine Situation in einem Gartenrestaurant: Neben mir ein Tisch mit sechs Erwachsenen, sie unterhalten sich, und daneben, wie schön, ein Tisch mit vier Kindern. Sie sind auffallend still. Was machen sie? Jedes spielt mit seinem Game-Boy. Aber es gibt noch andere Situationen, in denen Kinder ruhig gestellt werden. Zum Beispiel im Supermarkt, im Einkaufswagen. Manches Mal kann man beobachten, dass das Kind kaum den Arm ausstrecken darf. Was das Kind nachahmend hier tun will ist einladen und einladen. Ist es nicht eigentlich wunderbar, dieses unerschöpfliche Auch-Tun-Wollen, mit dem sich das Kind alles lernt und das uns so oft stört.
Das Kind braucht Raum, um tätig zu sein. Ein etwa 1-jähriges Kind sitzt im Park und untersucht im Gras liebevoll Kastanien. Es steckt sie nicht einmal in den Mund. Die Mutter kommt mit einem feuchten Reinigungstüchlein, säubert das Kind und nimmt es zu sich auf den Schoß. Das Kind aber will tätig sein, es möchte forschen, anderen nacheifern, möchte können, möchte helfen, möchte wichtig und erst genommen sein, in dem was es tut. Es möchte lernen, die Welt mit all seinen Sinnen erfahren.
In vielen Situationen ist es nur schwer möglich, dass das Kind so tätig ist, wie es gerne möchte. Umso wichtiger ist es, ihm Raum zu geben, in dem es tätig sein kann. Diesen Raum stellen wir dem Kind zur Verfügung, wenn wir ihm Gelegenheit geben, in kreativer Weise frei zu spielen.
Raum mit Kindern zu spielen
So kann es sich spielend die Welt zu Eigen machen, Zusammenhänge erfahren, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten erüben. Das Spiel ist für das Kind keine „Spielerei“, sondern hoher Ernst. Und tatsächlich bietet dieses Spielen. sofern es ein wirklich kreatives Spielen mit anderen Kindern ist, alle Voraussetzungen, um sich gesund und allseitig zu entwickeln.
In der heutigen Bildungsdiskussion wird der Wert des Spielens zuwenig erkannt oder aber mit Lernspielen der Anschein des Spielens vermittelt. Man möchte die Bildbarkeit des Kindes früh nutzen, seinen Intellekt fordern. Dies aber geht auf Kosten seiner körperlichen Gesundheit, denn „gescheit“ machen kann man das Kind früh, aber diese Kräfte gehen ihm zum Ausbilden seines Körpers verloren. Untersuchungen zeigen, dass sich der Wissensvorsprung früh Geschulter nicht über die Grundschulzeit hinaus hält. Im Gegenteil: Die moderne Hirnforschung (Gerald Hüther, Manfred Spitzer) zeigt, dass das Gehirn sich in den ersten neun Lebensjahren entwickelt. In der Kindergartenzeit ist die Entwicklung also noch in vollem Gange, die Reifung der komplexen Strukturen bedarf adäquater Anregung, Jede Form von Eigenbeschäftigung körperlich wie auch in der Phantasie – fördert den Reifungsprozess am intensivsten. Indem wir das Kind spielen lassen fördern wir also seine Intelligenz. Aber nicht nur diese. Ich möchte Ihnen das etwas anschaulicher vor Augen führen.
Bei den kleinen Kindern steht die Tätigkeit im Vordergrund – sie schaffen unermüdlich: laden hier Kastanien in einen Korb, schütten sie dort in den Puppenwagen, fahren den Puppenwagen zu einem Häuschen und holen noch einige Tücher herbei. Sie haben Freude am Tun. Zirka im 4. Lebensjahr kommt zum Tätigkeitsdrang die Spielphantasie: Tische, Ständer und Bretter werden zum Rettungsboot, die Planken mit Bändern gut verschnürt und verknotet. Einzelne Kinder werden zu Rettungshunden, die angeleint werden und mit Futter (Aprikosenkernen) versorgt. Eine Insel taucht auf. Die Kinder springen aus dem Boot und schwimmen zur Insel. Nach kurzer Erkundung geht es wieder ins Boot, die Fahrt wird fortgesetzt. Nun versagt der Motor. Während ein Kind schon mit einem Werkzeugkasten kommt (Hölzer in geeigneten Formen) sind sich die anderen einig, dass nur das Benzin ausgegangen ist. Ein kleiner Tisch wird umgedreht und zum Tankschiff, die Hundeleine zum Benzinschlauch, der Hund zum Tankwart. Alles ist in Bewegung, in einem großen schöpferischen Prozess. Sind die Kinder älter, werden ganze Spielabläufe zuvor durchdacht, besprochen, variiert. „Wir machen das so wie gestern, nur dass heute der Max der Kapitän ist und wir auf dem Eismeer unterwegs wären und dann …”. Ich hoffe, es wird deutlich: bei einem solchen Spiel kann sich die gesamte Persönlichkeit entwickeln.
Bewegung und Kraft werden geübt (Ständer tragen, Tisch umdrehen, vom Tisch hüpfen, Knoten machen).
Die Freude am Tun wird gestärkt und dies bis ins Erwachsenenleben hinein. Man weiß einfach, dass man etwas bewegen, bewirken kann.
Das schöpferische Gestalten der Spielhandlung gibt ihm das Vermögen auch seine Lebensverhältnisse zu gestalten. Auch dort kommt häufig etwas in Bewegung und man muss reagieren und agieren.
Probleme kommen im Spiel auf das Kind zu: – Wie schaffen wir den kleinen Tisch auf den großen? – Wer darf jetzt Kapitän sein? Drei Kinder wollen es gerne.
Es wird fähig, Probleme zu lösen. Auch dies brauchen wir dringend für das spätere Leben, Sagen wir nicht sogar, wenn sich uns ein Problem stellt, wir „spielen“ verschiedene Lösungen durch? Eine lebendige individuelle Denktätigkeit wird geübt, wie auch eine seelische Beweglichkeit. In einem solchen Spiel muss man sich einfügen und die Dinge, die einem wichtig sind, doch vertreten, Das soziale Miteinander wird geübt (einem Kapitän, der zu rigide ist, schwimmt die Besatzung weg), Sprache wird hier zur Notwendigkeit.
Das Kind spürt seine Handlungsfähigkeit, erlebt, dass es sich selbst Ziele setzen und diese erreichen kann. Dies sind so große Schätze für das ganze Leben – vielleicht kaum zu ermessen. Kinder brauchen Anregung und Raum für diese Art des Spielens. Und: sie brauchen Kinder dazu. In den Familien sind sie leider immer häufiger allein.
Raum für Herausforderungen
Einen weiteren Raum brauchen unsere Kinder: einen Raum, Herausforderungen und auch Schwierigkeiten und Frustrationen selbst zu meistern. Dürfen unsere Kinder auf einen Baum klettern? Oder ist es uns zu gefährlich? Dürfen unsere Kinder auch einmal Hunger und Durst bekommen oder haben wir die Apfelschnitzchen immer dabei? Bekommen sie eine Kleinigkeit bei jedem Einkauf? Oder können sie lernen, auch ab und zu verzichten? Dürfen Kinder versuchen, ihre Streitigkeiten mit anderen selbst zu regeln? Oder sind wir vermittelnd zur Stelle? Bieten wir unseren Kindern ständig etwas, damit keine Langeweile aufkommt? Oder dürfen sie auch Langeweile verspüren als Quelle für eigene Impulse?
Wenn wir unseren Kindern alle Schwierigkeiten abnehmen, machen wir sie zu ewig Hilfsbedürftigen.
Raum, um sich und die Welt zu erfahren
Unsere Kinder brauchen Raum, sich und die Welt zu erfahren: Raum zum Laufen, Springen, Hüpfen, Balancieren, Schaukeln.
In der Natur, die weit mehr Bewegungsmöglichkeiten bietet als unsere Spielplätze, sehe ich mehr Hundebesitzer mit Hunden als Eltern mit Kindern. Manches Mal ein Kind, fünf Erwachsene. Das Kind meist auf einem Fahrzeug, wahrscheinlich damit es schneller vorwärts geht. Laufen und Springen ermöglichen es dem Kind weit stärker, sich in seinem Körper zu erleben als auf einem Fahrzeug sitzend und zudem sind ihm beim Laufen zahlreiche Möglichkeiten gegeben, Sinneserfahrungen zu machen. Es kann durch Pfützen waten, Blumen pflücken. Dinge finden, anfassen. Die Natur bietet uns die feinsten, differenziertesten Sinneseindrücke. Haben Sie schon einmal zwei gleiche Schnecken gesehen?
Raum für Verbundenheit mit der Schöpfung
Das Kind braucht die Möglichkeit die Wunder unserer Welt zu entdecken. Mit welchem großen Interesse wird die tote Maus betrachtet, mit ihren ganz feinen Zehen. Aus welchem Grund mag sie gestorben sein? Das winzige Blättchen, an dem Spinnenfaden, wie es im Wind tanzt. Die Kinder sind mit ihren Sinnen ganz dabei und voller Freude. Wissen Sie was die Kinder tun, wenn ein Windstoß kommt und die Blätter flattern, wirbeln, herabsegeln? Sie müssen fast mitfliegen! Ja, die Kinder sind begeistert von unserer Welt und auch das ist eine wesentliche Notwendigkeit für das Kind, dass es mit uns die Freude an der Schöpfung erleben kann und sich eingebunden weiß in einen großen göttlichen Zusammenhang.
Wenn das Kind in seiner Kindheit den Raum hat sowohl starke als auch feine Wurzeln auszubilden, so geben ihm diese ein Leben lang Halt und Nahrung. Es kann wachsen, blühen und reifen. Die Pflege der Wurzeln ist ganz bestimmt keine verlorene Zeit.
Wir danken allen, die dazu beigetragen haben, unsere Kindergartenräume zu schaffen. Wir wollen den Kindern hier Raum für ihre Kindheit geben.